Ottokar 🦆
Das Gewitter
Nach diesem gefährlichen Ausflug blieben die Enten die nächsten Tage auf der Südseite und genossen das schöne Frühsommerwetter und das grosse Nahrungsangebot in dieser Jahreszeit. Ottokar hatte den Schreck mit den Gämsen schon wieder vergessen und war neugierig und unternehmungslustig wie eh und je. Immer hungrig auf der Suche nach den grössten Insekten, dem grünsten Gras, den saftigsten Wasserpflanzen, den süssesten Früchten und den dicksten Würmern entfernte er sich oft von seiner Mutter und seinen Geschwistern, obwohl die Mutter sehr gut aufpasste auf ihre Kinder.
An einem leicht bewölkten aber trotzdem ziemlich sonnigen und warmen Tag kam Ottokar nach einem seiner Streifzüge zurück zu seiner Familie. Aufgeregt vor ihnen hin und her schwimmend rief er: «Bald kommt ein Gewitter!»
«Warum weisst du das?», fragten seine Geschwister.
«Verrat› ich nicht, ist ein Geheimnis», quakte Ottokar.
«Ach komm schon, sei nicht so, sag› es uns», bat seine Schwester Amalia.
«Ja, sonst glauben wir dir nämlich gar nicht», sagte sein Bruder Platykus.
«Genau! Das kann ja jeder einfach so behaupten», meinte Theobald.
So schnatterten und quakten die Küken durcheinander, bis die Mutter unterbrach: «Jetzt beruhigt euch wieder. Es kann sehr gut sein, dass bald ein Gewitter kommt. Es ist so schwül und die Wolken wachsen immer höher in den Himmel.»
«Das hat Natrixia auch gesagt, und sie ist sehr klug. Seht ihr, ich habe Recht», prahlte Ottokar.
Ups, hatte er sich jetzt gerade verplappert und fast sein Geheimnis verraten? Aber seine Mutter schien das gar nicht gehört zu haben, sondern trieb ihre Kinder an: «Lasst uns besser einen sicheren Ort aufsuchen. Nicht weit von hier ist eine kleine Höhle am Ufer, wo wir reinschwimmen können und vor Regen, Wind und Blitzen geschützt sind. Folgt mir.»
Schon bald erreichte die Entenfamilie die Höhle. Und tatsächlich, am Himmel waren aus den hellen Wolken inzwischen grosse, dunkle Wolken geworden, die die Sonne verdeckten. Der Wind fegte über den See und es wurde immer kälter. Kaum war das letzte Entenkind in der Höhle, blitzte und donnerte es auch schon und man konnte keine zehn Meter weit mehr sehen, so fest regnete es. Da waren sie alle sehr froh, dass Ottokar sie rechtzeitig gewarnt hatte und sie bei dem Wetter nicht draussen waren. Natürlich können Enten auch bei Gewitter auf dem See schwimmen. Trotzdem war es in der Höhle angenehmer und die Mutter musste sich nicht sorgen, dass eins ihrer Kinder im Sturm verloren ging.
«So, Ottokar, verrätst du uns jetzt, woher du wusstest, dass das Gewitter kommt und wer Natrixia ist?», wollte seine Mutter wissen.
Nun ja, so ein richtiges Geheimnis war das ja nicht und Ottokar wollte damit nur seine Geschwister ein bisschen necken. Eigentlich brannte er aber darauf, davon zu erzählen. Ganz besonders, weil er auch ein bisschen stolz darauf war, dass er Recht behalten hatte und sie dank ihm nicht draussen auf dem See überrascht worden waren. Und jetzt, da sie in der gemütlichen Höhle abwarteten, bis das Gewitter vorbei war und es Ottokar dabei etwas langweilig wurde, erzählte er doch sehr gerne, woher er das gewusst hatte:
Auf seinem Streifzug vorher traf Ottokar auf eine graue Schlange, die sich auf einer Mauer am Wasser sonnte und wärmte. Weil sie fast so grau war wie die Mauer und sie ganz ruhig und bewegungslos ruhte, war sie fast nicht zu sehen. Auch Ottokar entdeckte sie erst, als er auf die Mauer hüpfen wollte, um zu sehen, ob er dahinter etwas zu fressen fände und erschrak ein kleines bisschen: «Hoppla, wer bist denn du? So etwas wie dich habe ich ja noch nie gesehen.»
«Ich bin Natrixia, eine Ringelnatter, und immer hier, bevor ein Gewitter kommt. Da kann ich mich nämlich nochmal wunderbar aufwärmen. Ich mag’s gerne warm.»
«Kommt ein Gewitter?», fragte Ottokar. «Woher weisst du das?»
Natrixia anwortete: «Ah, das ist mein Geheimnis.»
«Bitte bitte, erzähl es mir, ich möchte das auch wissen», drängelte Ottokar.
Die Schlange blinzelte Ottokar an: «Du bist Ottokar, und immer wissbegierig und hungrig und mutig, nicht wahr?»
«Ja, das stimmt», antwortete Ottokar verblüfft. «Woher weisst du denn das? Oder ist das auch ein Geheimnis?»
Natrixia schmunzelte: «Das Geheimnis ist, aufmerksam zu sein und gut zu beobachten.»
«Was soll das schon wieder heissen?» Jetzt war Ottokar wirklich verwirrt.
«Oh, das ist ganz einfach», säuselte die Ringelnatter. «Wenn ich mich an der Sonne aufwärme und mir dabei langweilig wird, beobachte ich immer den See und dich und deine Familie und all die anderen Tiere hier.»
«Ach so, klaro, deshalb weisst du so viel über mich!», verstand Ottokar. «Aber weshalb weisst du, dass ein Gewitter kommt?»
«Dafür gibt es viele Anzeichen, wenn man genau hinsieht. Schau dir nur die Wolken an; die werden immer höher. Und es ist heiss und feucht, richtig schwül. Aber du siehst auch noch viel mehr Hinweise, wenn du dich genauer umschaust.»
«Was denn für Hinweise?», wollte Ottokar wissen.
Natrixia schlängelte sich ein bisschen näher zu Ottokar hin und erklärte: «Du musst die anderen Tiere beobachten. Die Fische zum Beispiel springen aus dem Wasser hoch. Und die Möwen fliegen und schwimmen nicht mehr auf den See hinaus, sondern bleiben am Ufer.»
«Ui, du bist aber klug», staunte Ottokar.
Natrixia fühlte sich geschmeichelt: «Oh, danke. Aber das ist noch nicht alles.»
«Was noch? Was noch?» Ottokar fand das sehr interessant und wollte unbedingt noch mehr hören und lernen.
«Es sind vor allem die Insekten, auf die du achten musst. Man sieht keine Bienen mehr herumfliegen, die haben sich alle zurück ins Bienenhaus verzogen. Die Schmetterlinge haben sich verkrochen, während die Ameisen hektisch auf ihrem Bau herumrennen und die Grillen viel mehr zirpen als sonst.»
Ottokar staunte: «Ja, du hast Recht. Jetzt, wo du das sagst, fällt es mir auch auf.»
«Fällt dir sonst noch etwas auf?», fragte die Schlange.
Ottokar überlegte. Was war heute anders, als sonst? Er hatte heute bisher nur nach Futter gesucht, bevor er die Schlange traf. Hmmm… Ach ja, jetzt wusste er etwas: «Es gab heute ganz viele Mücken.»
«Richtig, sehr gut beobachtet», lobte Natrixia.
«Ha, ich bin auch klug», freute sich Ottokar.
«Ja, wenn du aufmerksam bist und gut beobachtest, dann kannst du viel lernen», meinte die Schlange. «Jetzt gehst du aber besser wieder zurück zu deiner Familie, bevor das Gewitter losgeht.»
Glücklich, so viel gelernt zu haben und zu wissen, dass er noch viele Geheimnisse würde lösen können, wenn er gut beobachtete und aufmerksam war, schwamm Ottokar zu seiner Familie zurück. Und was dann geschah, wissen wir ja schon.
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